Hundertvierzig schmale Seiten, die es in sich haben, die das erzwungene Lebensgefühl wiedergeben, sich auf absolut gar nichts mehr verlassen zu können. Selbst eine harmlose Lesereise von A nach B entwickelt sich für die Protagonistin, die aus ihrem Land, das Krieg gegen ein Nachbarland führt, flüchten musste, zu einer Grenzerfahrung. Unterwegs verpasst sie ihren Zug, funktioniert ihr Telefon nicht. Sie strandet in einer Grenzstadt, ohne dass irgendjemand davon weiß. Was ihr erst ein Atemholen verschafft, sie einfach herumstreift und sich ein Hotelzimmer nimmt. Doch die Gedanken, die Erinnerungen, die Wut auf das „Untier“, die Scham lassen sie nicht los, selbst als sie einem Mann durch leere Vorstadtstraßen regelrecht nachstellt. Das, was zu ihrem Exil führte, ist zu übermächtig, drängt immer wieder an die Oberfläche, selbst als sie als zersägte Jungfrau in einem heruntergekommenem Wanderzirkus landet. Doch alles andere als ohnmächtig setzt Maria Stepanova ihre Sprache, ihre Bilder, ihre Gefühle, ihre Phantasie so klug, stark und poetisch ein, dass es tief berührt und gleichzeitig überzeugend demonstriert, dass sie sich ihre Sprache nicht wegnehmen lässt. Und Olga Radetzkaja hat den Roman in ein verdichtetes knappes Deutsch übertragen, das trotzdem die vielen Anspielungen und doppelten Böden aufschimmern lässt. (Stefanie Hetze)